Ach wie beneide ich immer Leipzig um seine Musik! – Clara Schumann

Die Stimmung ist besser als die Lage.
Oder: Warum ich Leipzig liebe.

Für jemanden wie mich, die in ihrem bisherigen Leben im Schnitt alle 4 Jahre den Wohnort gewechselt hat, ist es höchst erstaunlich, plötzlich festzustellen, dass ich mich nunmehr seit 12 Jahren in derselben Stadt beheimatet fühle.
Dass ich mal in Leipzig wohnen sollte, war alles andere als vorhersehbar und schon gar nicht geplant. Umso schöner ist es, dass mich die Zufälle des Lebens in eine so wunderbare Stadt gespült haben. In den Jahren, die ich hier verbracht habe, hat sich die Stadt gefühlt komplett erneuert und gewandelt und scheint noch lange nicht fertig damit zu sein. Und auch wenn der Hype um Leipzig in den letzten Jahren zugenommen hat, so möchte ich doch mal genauer hinsehen, was es genau ist, was mir hier so gut gefällt.

Wer Leipzig kennt, dem fallen schnell viele Dinge ein, warum Leipzig so viele Fans hat. Das viele Grün im Stadtgebiet, die teilweise wunderbar erhaltene Bausubstanz aus der Gründerzeit, das reiche Kulturleben mit den Thomanern, Musik und der Leipziger Buchmesse. Als ich 2007 zum ersten Mal zu Besuch hier war und durch die Innenstadt schlenderte, hatte ich spontan den Gedanken: „Keiner hat mir verraten, dass es hier so SCHÖN ist!“.
Viele Städte, die ich bisher kannte, haben im Krieg ihre Innenstädte verloren, natürlich gewachsene Viertel gibt es längst nicht überall. Doch wichtiger als diese Äußerlichkeiten (die für das Wohlgefühl zugegebenermaßen eine große Rolle spielen), finde ich die „inneren Werte“ der Stadt. Damit meine ich die Menschen, die hier leben, ihre Mentalität, ihre Art, die Dinge zu sehen und Probleme anzugehen.
Anders als in vielen westdeutschen Städten war und ist bis heute in Leipzig noch kaum etwas wirklich fertig. Alles entwickelt sich und wandelt sich, ganze Straßenzüge verändern sich rasant und auch die Einwohnerschaft wächst. Inzwischen wohnen rund 600 000 Menschen im Stadtgebiet, als ich hier ankam, waren es noch ca. 100 000 weniger. Es werden also ständig neue Impulse in die Stadt hineingetragen. Hier trifft Ost auf West auf International.

Doch schon vorher waren die Leipziger ganz besondere Menschen. Nicht nur haben sie 1989 mit den Demonstrationen gegen das DDR-Regime einen wichtigen Teil zur Friedlichen Revolution beigetragen. Seit Jahrhunderten waren die Leipziger stets stolz auf ihre Widerspenstigkeit der Obrigkeit gegenüber und die starke Bürgergesellschaft. Während in der Residenz-Stadt Dresden Kunst und Kultur vom jeweiligen Landesfürsten protegiert wurden, waren es in Leipzig reiche Händler und Bürger, die das kulturelle Leben der Stadt finanzierten und am Laufen hielten. Der Stolz auf die Bürgergesellschaft und das vielfache Engagement der Leipziger ist bis heute prägend für das Lebensgefühl der Stadt. Dazu gehört, dass man auch mit kleinem Geldbeutel an vielen kulturellen Veranstaltungen teilnehmen kann.

Plagwitz Graffiti

Der radikale Systemwechsel 1989 zwang die Leipziger dazu, sich in Rekordgeschwindigkeit an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Und so erscheint es manchmal so, als hätten viele Menschen hier ihr Leben an zwei grundlegend verschiedenen Orten zugebracht, selbst wenn sie die Stadt gar nicht verlassen haben. Das macht mein Leben hier interessant. Immer wieder stelle ich fest, dass ich genau hier mehr über die Vergangenheit dieses Landes erfahren kann.
Ich lerne neue Wörter (Wissen Sie, was „abkindern“ bedeutet?), neue Sitten und Gebräuche (die ich nicht immer verstehe) und vor allem einen optimistischen Pragmatismus kennen, der mich immer wieder verblüfft.
Selbst wenn sämtliche Parameter und alle Logik dagegen sprechen, so ist der Leipziger doch überzeugt, dass sich in der Zukunft schon irgendwie alles zum Guten fügen wird und er oder sie genau in dieser Stadt sowieso auserwählt und privilegiert ist (Heldenstadt!).
Selbst jetzt in der Corona-Krise, da alle Zeichen auf Sturm stehen und viele um ihr finanzielles Überleben bangen – gerade die ältere Generation lässt sich kaum aus der Bahn werfen: „Wir haben die DDR überstanden und die Verwerfungen nach der Wende. Dann kriegen wir das jetzt auch noch hin.“

Ich staune. Die Stimmung ist einmal mehr besser als die Lage. Auch bei mir.