
Belfast pre-Brexit
In meiner Generation löst die Nennung der Stadt Belfast eine ganze Reihe von Assoziationen aus. Die meisten davon haben mit gewaltsamen Auseinandersetzungen, einem unübersichtlichen Konflikt, der IRA und Bombenattentaten mit vielen zivilen Opfern zu tun. Gefühlt ist die Befriedung des Nordirland-Konflikts durch das Karfreitagsabkommen erst wenige Jahre her. Als meine Tochter mir also eröffnete, dass sie ihr Auslandssemeseter in Belfast verbringen würde, empfand ich zweierlei: Da war einerseits die Freude darüber, dass mein Kind an einer der renommiertesten Universitäten Großbritanniens studieren und dabei wahrscheinlich auf junge Menschen aus aller Welt treffen würde. Gleichzeitig spürte ich jedoch auch die Sorge, die alle Eltern zu irgendeinem Zeitpunkt ereilt, wenn es darum geht, die Kinder ein für allemal in die Welt zu entlassen: Ist das nicht alles furchtbar gefährlich? (Hier klopfe ich mir innerlich auf die Schulter. Das wird schon. Die Tochter ist erwachsen und wird schon wissen, was sie tut. Und für Erziehung ist es sowieso längst zu spät.)
Inzwischen habe ich selbst eine Woche in Belfast verbracht und viel gelernt. Die erste Überraschung: Belfast ist viel kleiner, als ich dachte. Wie kommt es, dass wir eine so kleine Stadt mit so viel Gewalt und Leid in Verbindung bringen? Nicht einmal 350 000 Einwohner zählt Belfast, das Stadtzentrum kann man prima zu Fuß erkunden und von vielen Orten aus blickt man bis in die grünen Hügel der Umgebung. Die friedliche Natur Irlands samt obligatorischen Schafen und Kühen ist nirgendwo weit entfernt.
Schon bei meinen Vorbereitungen zur Reise stellte ich fest, dass der Friedensschluss der verfeindeten Parteien tatsächlich schon 1998 war. Mir kommt es vor, als wäre das erst gestern gewesen. Aber gut, ich habe ja auch das Gefühl, erst letzte Woche noch schwanger gewesen zu sein. Heute ist meine Tochter 21 und wenn ich von den Fernsehbildern aus den 80er und 90er Jahren berichte, dann ist das für sie vermutlich so, als erzählten mir die Großeltern vom Krieg. Für ihre Freunde an der Uni ist der Nordirland-Konflikt weit weg – sie beschäftigen sich viel mehr mit Klimawandel und den allgegenwärtigen Konflikten der heutigen Zeit. Gerade sind türkische Truppen in die Kurdengebiete in Nordsyrien einmarschiert und vom Brexit gibt es fast täglich neue Meldungen. Dass das EU-Parlament und Boris Johnson sich auf einen neuen Brexit-Deal geeinigt haben, löst nicht nur bei den jungen Leuten gelangweiltes Schulterzucken aus. „Den Deal lehnt das Unterhaus sowieso wieder ab.“ – das sagen in dieser Woche hier alle, mit denen man darüber spricht. Insgesamt schwankt die Stimmung irgendwo zwischen „das wird sowieso nie was mit dem Brexit“ und „es kommt sowieso alles anders“.
Bei der Stadtführung erfahre ich von Brian, dass hier in Nordirland der große Fortschritt ja darin bestünde, dass sich alle über eines einig sind: Niemand will eine Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. (In meinem Geiste höre ich dazu fatalerweise den Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“)
Nachdem man sich Jahrzehnte lang gegenseitig an die Gurgel gegangen ist und praktisch jede Familie im Bürgerkrieg, den sie hier ganz euphemistisch nur „the troubles“ nennen, geliebte Menschen verloren hat, ist diese Haltung „keine Grenze!“ ein enormer Fortschritt. Ob Brexit oder nicht, das scheint den meisten gleichgültig zu sein, Hauptsache die Grenze bleibt offen. Dass nun ausgerechnet die DUP (Democratic Unionist Party) im Unterhaus gegen den Brexit-Deal gestimmt hat, mutet da ziemlich seltsam an. Die Unionisten (das sind die, die sich für Nordirland eine enge Anbindung an Großbritannien wünschen und gegen eine Wiedervereinigung der irischen Insel sind) haben große Angst davor, dass durch zu viel Sonderbehandlung für Nordirland die Gegenseite erstarken könnte und die Bestrebungen zu einer Vereinigung der beiden Landesteile Irlands wieder mehr Zulauf erhalten. Wie ein Brexit OHNE Grenze auf der irischen Insel und OHNE eine Sonderbehandlung von Nordirland aussehen könnte, erschließt sich mir allerdings auf den ersten Blick auch nicht.
Die Situation ist verworren und der einzige Lichtblick ist, dass die junge Generation sich von dem ganzen Durcheinander kaum aus der Ruhe bringen lässt. Man studiert gemeinsam, lernt sich kennen, geht aus und feiert. Für die langfristige Friedenssicherung scheint mir dieser Weg immerhin sehr vielversprechend zu sein. Wer schon mal bei einem Grillfest und einer Flasche Schnaps die nachbarlichen Streitigkeiten aus dem Weg geräumt hat, der weiß, wovon ich spreche. Gut also, dass das Erasmus-Austauschprogramm für Studenten nicht an die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU geknüpft ist. So können weiterhin junge Menschen aus aller Welt nach Nordirland (oder London oder Glasgow oder Manchester) kommen und unter ihresgleichen feststellen, was für wunderbare Menschen in diesem seltsamen Inselreich leben.
Und natürlich kann man hier die spektakuläre Natur bestaunen und genießen, in die Geschichte der Industrialisierung eintauchen, wunderbare Kunst besichtigen und hervorragende Livemusik hören. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es außerdem ein Museum, dass einem spektakulären Scheitern des industriellen Fortschritts ein architektonisch und didaktisch so spannendes Museum gewidmet hat: Einen Besuch im Titanic Belfast sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. In den Pubs und auf den Straßen trifft man freundliche Menschen, die eine schwer verständliche Version des Englischen sprechen, dafür aber umso herzlicher die Reisenden begrüßen und dafür sorgen, dass man die richtige Haltestelle im Bus nicht verpasst. Wer London zu unübersichtlich und zu teuer findet, dem sei Belfast als Alternative wärmstens empfohlen.
Bilder: An der Nordküste, Nähe Giant’s Causeway