Seltsamer Sommer

Wer keine Schulkinder hat, vermeidet das Verreisen mitten im Sommer. Und obwohl gefühlt mindestens die Hälfte der Menschen irgendwie weg ist, sind meine Sommer normalerweise ziemlich arbeitsintensiv. Mein Tagesrhythmus passt sich wie von selbst den Temperaturen an, oft bin ich morgens um sechs schon am Schreibtisch, und wenn die Hitze sich dann unterm Dach staut, mache ich eine ausgedehnte Siesta. Erst abends erwache ich zum zweiten Leben, wenn man durch die aufgeheizten Straßen schlendern kann, den Grillen beim Zirpen zuhört und auf der Karl-Heine-Straße ein kühles Glas Weißwein schlürft. Spontane Freundesrunden zum Picknick oder abendlichen Cocktail-Trinken verführen zu später Stunde, und die Zeit dehnt sich und formt sich zu endlosen Schleifen.

In diesem seltsamen Sommer 2020 sind Spaziergeh-Freundschaften entstanden und wir haben die Ausflugsziele rund um Leipzig entdeckt. Auwald und Seen in der Umgebung ersetzen für viele Andalusien oder Toskana und wir stellen dankbar fest, wie schön diese Stadt ist. Gespräche in kleineren Runden anstatt großer Partys bringen uns Menschen näher, die wir bislang nur oberflächlich kannten. Noch immer gibt es von allem weniger – weniger Veranstaltungen, weniger Reisen, weniger Termine, weniger Geld auf dem Konto – und doch fühlt sich der Sommer nach mehr an. Mehr Zeit, mehr Leben, mehr Tiefe.

Nein, ich möchte nicht, dass diese Zeit der Einschränkungen ewig andauert. Und ja, ich wünsche mir für alle meine Mitmenschen, dass es bald wieder normal sein kann in Schule, bei Veranstaltungen, bei Kultur und Messen. Aber mir fällt auf, wie ich mich unter diesen neuen Gegebenheiten verändere. Selbst meine Gehirnzellen scheinen von dem neuen Dolce Vita angesteckt worden zu sein. Da in diesem Jahr bislang so gut wie alle Aufträge verschoben wurden und nichts wie geplant läuft, hat sich ein gewisses Laissez-Faire breitgemacht. Der Text ist für heute angekündigt, aber noch nicht da? Na, dann fahr ich erst mal zum See. Das wird sich schon finden. Ansonsten arbeite ich eben an meinen eigenen Projekten. Das geht immer.

Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte ich alles losgelassen und warte jetzt einfach ab, was trotzdem so zu mir kommt. Das ist einerseits finanziell riskant. Andererseits ist es eine große Befreiung. Was mich aber am meisten wundert: Es läuft trotzdem. Ganz ohne Panikmodus und verbissene Planung. Komisch, dass es erst eine Pandemie brauchte, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Dass die spontanen Feste die besten sind, wissen wir schon lange. Wieso sollte es bei der Arbeit eigentlich anders sein?