Wenn einer eine Reise tut…
Gedanken zwischen Reisewahn und Stillstand

Dieses Thema findet sich ziemlich weit oben auf meiner Liste für mögliche Blog-Themen. Da steht es schon ziemlich lange. Offenbar wollte ich schon im Herbst letzten Jahres darüber nachdenken, welche Bedürfnisse Reisen heutzutage befriedigen und was wir auf Reisen eigentlich suchen. Nun hat Corona die Welt überrollt, und es tun sich ganz neue Fragen auf. Trotzdem will ich zu Beginn dieses Textes einfach mal so tun, als wäre es noch 2019.

Von Goethe gibt es ein schönes Zitat: Man reist ja nicht um anzukommen, sondern um zu reisen. Ich würde das so nicht unterschreiben. Für mich galt immer: Ich reise nicht gern, ich bin einfach nur gern an fremden Orten. Den Prozess des Mich-Dorthin-Bewegens, also das eigentliche Reisen, empfinde ich als extrem mühsam und anstrengend. Sobald ich einen Flughafen betrete, bin ich schon von Grund auf erschöpft. Auto fahren macht mir keinen Spaß. Zug fahren ist immerhin halbwegs erträglich, man kann sich die Landschaft ansehen und womöglich interessante Mitreisende kennenlernen.

Trotzdem beginne ich Reisen erst dann zu genießen, wenn ich tatsächlich angekommen bin. Das ist nicht der erste Tag, oftmals nicht einmal der zweite oder dritte. Vielmehr fangen Reisen für mich erst dann an Spaß zu machen, wenn ich die erste Orientierung am Reiseziel hinter mir habe, ich mit einigen Menschen, die dort leben, gesprochen habe (egal über was), und der neue Ort anfängt, sich vertraut und fremd zugleich anzufühlen. Wenn also Kopf und Bauch dem schnellen Verkehrsmittel hinterhergekommen sind und sozusagen einen neuen Ausgangspunkt für das Dasein eingenordet haben. Dann genieße ich es von dort aus so viel Neues wie möglich zu entdecken. Völlig fremd ist mir hingegen der weit verbreitete Drang, so viele Länder wie möglich zu bereisen, wie er sogar in verschiedenen Popsongs besungen wird. Ich bin eher Team „ein Land/eine Stadt und dann da so lange wie möglich bleiben und das Lebensgefühl dort spüren“.

Nun kann Reisen heutzutage viele ganz unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen. Urlaub ist nicht notwendigerweise gleich Reisen. Ein Urlaub kann mich zwar an einen mir fremden Ort führen, dort aber primär der Erholung dienen. Cluburlaub auf den Kanaren würde ich da ebenso einordnen wie Wellnessurlaub an der Ostsee. Menschen, die am liebsten die ganze Welt bereisen würden, nennen mir auf Nachfrage oft Neugierde als ihren Hauptantrieb. Worauf sich die Neugierde richtet, ist mir allerdings nicht immer ganz klar. Naturerlebnis? Möglich. Fremde Kulturen entdecken? Ist persönlichkeitsbildend, aber in der Kürze der Zeit bei den meisten eigentlich nicht wirklich möglich. Sich selbst in fremden Situationen erleben? Ist sicher auch ein Aspekt, der spannend ist. Man geht ja auch davon aus, dass man auf Reisen dazulernt und sich der Horizont weitet. Menschen mit einem weiteren Horizont sind wiederum (hoffentlich) weniger anfällig für Vorurteile und Rassismus.

Trotzdem befallen mich in den letzten Jahren immer wieder Zweifel, ob dieses ständige Hin- und Herjetten, mit dem insbesondere die Generation unter 30 aufgewachsen ist, der Persönlichkeitsbildung wirklich so zuträglich ist. Welchen Lerneffekt haben 3-Tage-Städtetrips zum Shopping nach Mailand? Oder vier Tage London, um ein bestimmtes Konzert zu besuchen? Mein persönlicher Eindruck ist, dass viele Reisen unternommen werden, einfach „weil man das jetzt so macht“. Für bestimmte Bevölkerungsgruppen gehören Reisen zum Alltag dazu, man denkt über diesen Lebensstil gar nicht mehr nach.
Es müssen schon sein: ein Haupturlaub zur Erholung im Sommer (bei manchen auch als Erlebnistrip geplant), eine Städtereise, verschiedene Kurzbesuche bei Freunden in aller Welt und dann noch ein Wellnesskurztrip, um sich von all dem Stress zu erholen. Dazu kommen bei vielen noch Dienstreisen, die sich ebenfalls exponentiell zu vermehren scheinen. All dies gilt natürlich nur für Bevölkerungsgruppen, die sich das ganze Reisen auch leisten können. Gerne wüsste ich mal, ob die Häufigkeit und Ausgestaltung von Reisen eine Auswirkung auf das Glücksempfinden und die Lebenszufriedenheit von Menschen haben. Hier gibt es eindeutig Forschungsbedarf.

Immerhin ist Reisefreiheit ein so hohes Gut, dass sie als Freizügigkeit sogar in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN festgeschrieben ist (Artikel 13). Man kann davon ausgehen, dass die Grenzschließungen innerhalb Europas von der Bevölkerung wirklich nur ausnahmsweise und zeitlich begrenzt akzeptiert werden.

Trotzdem höre ich bei einigen meiner Freunde gelegentlich leise Erleichterung: Dieses ganze Reisen war mir in letzter Zeit sowieso zu viel und zu anstrengend. Insbesondere was berufliche Reisen betrifft, hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass es niemandem etwas ausmachen dürfe, heute bei der Buchmesse in Leipzig und morgen bei einem Meeting in Bologna zu sein, gerne auch ohne einen Tag Pause dazwischen, um das Ganze zu verarbeiten.
Bei vielen führt die jetzt plötzlich verordnete Ruhepause dazu, die Anforderungen von Geschäftswelt und privaten Bedürfnissen kritisch zu hinterfragen. Und dann stellt man womöglich fest: Ich muss gar nicht überall gewesen sein. Ich muss auch nicht überall dabei sein. Und ich kann viel mehr erleben, wenn ich meine Reisen so gestalte, dass ich nicht nur Ziele abhake, sondern länger verweile, mich mit mehr Muße umsehe und meine Eindrücke in mehr Ruhe verarbeite. Das wäre doch immerhin eine positive Nebenwirkung dieser ganzen Einschränkungen wegen des Virus mit dem bösen Namen.