Jetzt sei gefälligst kreativ!

Diese Aufforderung ist genauso sinnlos wie “Entspann dich mal!”. Oder?

Wird man beim Wolken gucken kreativ? Ich probiere das seit einer Weile aus, aber auf den großen Durchbruch warte ich noch. Dann braucht man vielleicht doch eher Druck, damit die Ideen sprudeln? Nein. Unter Stress kann ich zwar hervorragend und schnell allerlei Dinge abarbeiten, aber wirklich Neues kommt selten dabei heraus. Ich staune immer wieder sehr über meine Kollegen, die offenbar unter Zeitdruck tatsächlich am besten arbeiten können. Bei mir funktioniert das eher so mittelmäßig bis gar nicht.

Natürlich kann ich auch unter Druck Ergebnisse liefern. Aber diese sind selten die besten, die mir möglich wären, wenn ich mir etwas mehr Zeit ließe. Und dann bin ich unzufrieden mit dem Ergebnis (auch wenn andere das vielleicht gar nicht sind). Als freiberuflicher Kreativarbeiter balanciert man mindestens die Hälfte der Arbeitszeit auf der schmalen Linie zwischen Leerlauf und Stress, das lässt sich gar nicht vermeiden. Aufträge werden vorgezogen oder ausgebaut und plötzlich wäre es gut, wenn der Tag doppelt so viele Stunden hätte. Oder alles verschiebt sich, man hat eine Woche gefühlt nichts zu tun und dann kommt alles auf einmal. Dennoch sind gute Ideen das Kapital und der Schatz jedes Kreativen und da lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie man diesen am besten erhalten kann.
Also ganz konkret: Wie kann ich am besten kreativ arbeiten?

Jeder Neukunde erwartet mit Recht von mir, dass ich seinem Text die größte Aufmerksamkeit widme und mich beim Schreiben in Bestform befinde. Aber wie bekomme ich das hin? Es gibt eine ganze Menge Kreativitätstechniken, mit denen man in kurzer Zeit Ideen produziert (Brainstorming oder die Mind Map gehören dazu).

Im Laufe der Jahre habe ich meine ganz eigene Vorgehensweise entwickelt. Am Anfang steht das Gespräch mit dem Kunden oder das Briefing. Dabei geht es zunächst um technische Fragen: Wofür soll der Text verwendet werden, wie lang soll er sein, welche Inhalte sind wichtig? Wer wird den Text lesen, und was soll er bewirken? Je nachdem, wie gut man sich versteht, kann so ein Gespräch auch mal mehrere Stunden dauern. Und meistens sind es nicht die harten Fakten, die danach hängen bleiben und sich als am wichtigsten herausstellen. Sehr oft ist das, was zwischen den Zeilen gesagt wird, wichtiger als der Inhalt an sich. Natürlich mache ich mir ein paar Notizen – die ich mir aber später beim Schreiben so gut wie nie ansehe. (Schon bei meinen Schulaufsätzen bekam ich Abzug dafür, dass ich kein Konzept schrieb, sondern direkt zur Reinschrift überging, was bei meiner schwer zu entziffernden Handschrift zugegebenermaßen für manchen Pädagogen eine echte Herausforderung darstellte.)

Im nächsten Schritt folgt die Recherche der Hintergründe. Da lese ich alles, was ich im Netz zum gegebenen Thema finden kann und was mir interessant erscheint. In dieser Phase lerne ich vieles dazu, das allerdings meistens für den konkreten Auftrag völlig irrelevant ist. Aber wer weiß, wann man dieses Wissen später mal brauchen kann? Mein Gehirn hat Spaß daran, sich auf diese Weise auszutoben, Informationen aufzusaugen, zu sichten und zu sortieren.

In Phase drei des kreativen Prozesses wird es gewagt. Es folgt – eine Pause. Ich erteile meinem Gehirn die Anweisung, sich ab sofort überhaupt nicht mehr mit dem Thema zu befassen und stattdessen andere Dinge zu tun. Routinearbeiten gehen in dieser Phase prima. Buchhaltung. Oder Wohnungsputz. Spazierengehen im Wald. Am besten ist es, wenn mindestens eine Nacht dazwischen liegt, gerne auch ein ganzes Wochenende.

Und spätestens am Montagmorgen hab ich dann ein ganz komisches Gefühl. Einerseits habe ich überhaupt keine Ahnung, was mein Gehirn nun als Leistung ausspucken wird. Und gleichzeitig weiß ich aus Erfahrung, dass da auf jeden Fall ein Text daraus entstehen wird. Ich muss nur noch anfangen. Dann schreibt sich der Text mehr oder weniger von selbst. Es sei denn, ich finde den Anfang nicht, weil ich mich drücke. Das ist tatsächlich der einzige Zeitpunkt in meinem Alltag, an dem ich einen inneren Schweinehund überwinden muss. Es hilft schon, dass ich nur für aufgeschriebene Texte bezahlt werde.

Perfekt wird der Text allerdings erst, wenn ich noch einmal drüber geschlafen und noch einmal abschließend überarbeitet habe. Ich habe keine Ahnung, was im Traum alles so in meinem Kopf vor sich geht, aber ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Dinge mir am nächsten Morgen noch einfallen.

Wahrscheinlich gibt es Menschen, bei denen Druck und Chaos die Kreativität ankurbeln. Bei mir ist es andersherum. Meine Kreativität braucht Ordnung, Leere, Raum und Zeit. Vielleicht weil ich erst dann das Gefühl habe, meinen Gedanken in Ruhe bis zum Ende folgen zu können. Das lässt sich nicht beschleunigen – zumindest nicht ohne Qualitätsverlust. Das Gras wächst ja auch nicht schneller, wenn man daran zieht.