Warum Sprachen lernen uns bereichert.

Mit jeder neu erlernten Sprache erwirbt man eine neue Seele.
(Sprichwort aus der Slowakei)

Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, kennen das Phänomen nur zu gut. Für ein bestimmtes Wort im Deutschen gibt es in der Zielsprache keine Entsprechung, die genau das trifft, was gemeint ist. Umgekehrt gibt es im Deutschen längst nicht für alles exakte Übersetzungen. Für Sprichwörter trifft das häufig zu, aber auch für die Beschreibung komplexer Gefühlszustände. Ein Wort wie „Weltschmerz“ ist derart unübertragbar, dass es direkt ins Englische übernommen wurde.

Zu meiner großen Freude stieß ich vor einiger Zeit auf die Webseite von Tim Lomas, PhD, der an der University of East London lehrt und forscht. Sein Forschungsgebiet ist die sogenannte „Positive Psychologie“. Auf seiner Seite „The positive lexicoraphy“ (mehr dazu hier) sammelt er unübersetzbare Wörter aus allen Sprachen der Welt und versucht ihnen eine ungefähre Bedeutung im Englischen zuzuordnen. Seine Datenbank ist eine Fundgrube für Sprachfetischisten jeglicher Art.

Ein paar zufällig ausgewählte Beispiele:
Morgenfrisk (dänisch) – sich erfrischt fühlen, nach einer Nacht, in der man gut geschlafen hat
Kalsarikännit (finnisch) – wörtlich „Unterhosensuff“, sich zu Hause betrinken, ohne die Absicht das Haus zu verlassen, oft nur dürftig bekleidet
Womba (bakweri) – das Lächeln eines schlafenden Kindes
Elmosolyodni (ungarisch) – ein winziges Lächeln bzw. der Beginn eines Lächelns

Wenn Sie mehrere Sprachen sprechen, dann kennen Sie bestimmt auch so einiges, das Sie ihm schicken könnten – das Lexikon ist ein laufendes Projekt und er nimmt gerne Vorschläge entgegen.

Es deutet alles darauf hin, dass die Benutzer dieser Sprachen ein starkes Bedürfnis hatten oder haben, genau diese Gefühlsregungen präzise auszudrücken. Nur deshalb brauchen sie schließlich ein eigenes Wort dafür. Im Umkehrschluss könnte man darauf kommen, dass deutsche „Gemütlichkeit“ an anderen Orten der Welt eher schwer zu finden sein dürfte. Wenn also die auszudrückenden Gefühle und Sachlagen die Sprache formen, wie sieht es dann umgekehrt aus? Ist es so, dass die Sprache, die wir sprechen, auch einen bestimmten Rahmen an Gefühlen und Einstellungen vorgibt?

Auch dieser Frage gehen seit einiger Zeit verschiedene Forscher nach. Aneta Pavlenko ist Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft in Oslo und erforscht die Zusammenhänge von Sprache, Denken und Fühlen bei zweisprachigen Menschen. Von mehr als 1000 befragten Bilingualen gaben mehr als zwei Drittel an, dass sie eine Veränderung ihrer Persönlichkeit feststellen, wenn sie die Sprache wechseln. (Als ich das einer Freundin erzählte, war sie nicht sonderlich überrascht. Sie sagte nur: „Dass du anders bist, wenn du englisch sprichst, weiß ich schon lange.“)

Im Prinzip sind wir Biligualen also alle ein bisschen schizophren. Ob das daher kommt, weil man mit einer Sprache bestimmte Situationen verbindet (wenn zum Beispiel zu Hause eine bestimmte Sprache gesprochen wurde und eine andere für Schule oder Beruf im Vordergrund stand) oder ob die Ursache für die unterschiedliche Gefühlslage in der Sprache selbst liegt, ist für die Menschen, die es betrifft, erst einmal zweitrangig. Erste Hinweise dazu liefert Arthur Jacobs von der Freien Universität Berlin. In einer von seinem Team durchgeführten Studie unterschieden sich die Antworten der Probanden dahingehend, dass alle Teilnehmer auf Spanisch extrovertrierter auftraten und zu stärkeren Gefühlsschwankungen neigten, als wenn sie auf Deutsch antworteten. Und dies traf sowohl auf die deutschen als auch auf die spanischen Muttersprachler zu. Sie alle hatten die jeweilige Zweitsprache erst mit ca. 20 Jahren erlernt. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Fragen können also auch nicht mit einer Prägung in der Kindheit erklärt werden.

Grundsätzlich sollte man sich gelegentlich klarmachen, dass man mit einer neuen Sprache immer auch eine neue Weltsicht kennenlernt. Laut neuesten Studien kann sich sogar die Wahrnehmung unterscheiden, je nachdem, welche Sprache man gerade benutzt. Ich persönlich habe noch nie verstanden, wie man längere Zeit in einem Land leben kann, ohne den starken Drang zu haben, diese Sprache zu lernen. Als wir in der Slowakei lebten, gab es erstaunlich viele Deutsche, die fanden, dass das mit dem Slowakisch lernen viel zu viel Aufwand sei und man doch in Bratislava auch ganz gut ohne Slowakischkenntnisse klarkäme. Das kann ich im Nachhinein nicht wirklich bestätigen. Aber was noch viel schwerer wiegt: Mir wäre doch so viel entgangen, wenn ich die Sprache nicht zumindest in Grundzügen gelernt hätte! Denn wie die Menschen ticken, das spiegelt sich eben auch in der Sprache, die sie benutzen. Oder wie Francis Bacon sagte:

Die Sprache gehört zum Charakter des Menschen.

Klar ist immerhin, dass das Erlernen einer weiteren Sprache im Kindesalter den Zugang zu weiteren Gefühlswelten mit sich bringen kann. In einer Studie im Jahr 2018 stellte der Psycholinguist Scott Schroeder fest, dass zweisprachige Kinder sich tatsächlich besser in andere hineinversetzen können. Wer also die Möglichkeit hat, seine Kinder zweisprachig zu erziehen, sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen. Auch wenn es manchmal mühsam erscheint und Kinder zwischenzeitlich den Gebrauch einer bestimmten Sprache verweigern oder mit der Rechtschreibung in beiden durcheinanderkommen. Das gibt sich meist mit der Zeit. Es lohnt sich dranzubleiben.

Zumal der Zweisprachigkeit allerhand positive Nebenwirkungen zugeschrieben werden. Besseres Verständnis für andere Menschen, höhere Empathie, bessere Konzentrationsfähigkeit. Ganz abgesehen von dem Selbstbewusstsein, das es jungen Menschen gibt, wenn sie sich ohne Probleme in mehreren Sprachen ausdrücken können. Und erst der Beitrag zur Völkerverständigung! Es gibt sogar erste Hinweise darauf, dass Mehrsprachigkeit das Voranschreiten einer Demenz verzögern kann. Dasselbe gilt übrigens auch für das Erlernen von Fremdsprachen später im Leben.

Also, trotz Übersetzungsprogrammen und KI – ran ans Sprachen lernen! Denn die Gefühlswelt einer anderen Sprache wird so eine Künstliche Intelligenz sowieso nie kapieren.